Hinter den Kulissen des Matenadaran

"Matenadaran" - Aufbewahrungsort für Bücher, Bibliothek. So lautet trocken, kurz und bündig die Übersetzung eines armenischen Wortes, das für mich zum Namen, zum Synonym für unermeßliche Schätze, zum Reizwort für berufliches Weiterlernen, zum Begriff für Freundschaft, Offenheit, Heiterkeit, Improvisationstalent, Fachwissen und großartiges Können geworden ist.

Wie das? Was kommt da zusammen, wenn man, ohne zielgerichtet danach zu suchen, mit seinem Interesse Menschen begegnet, die dieses nicht nur teilen, sondern mit Sympathie und Offenheit auf einen zugehen, die - verglichen mit den bis ins letzte verwalteten Möglichkeiten in unserem Land - so überraschend herzlich, vorurteilslos, warm und ausgesprochen ehrlich und unkompliziert sind ?!

Seit ein paar Jahren darf ich während unseres (familienbedingten) Sommeraufenthaltes in Eriwan in der Restaurier-Abteilung des Matenadaran mitarbeiten. Meine "Kolleginnen" dort freuen sich ebenso wie ich auf das Wiedersehen, auf die tägliche Zusammenarbeit, auf die geselligen Vesperpausen aufs Erzählen und gemeinsame Schaffen. Da sind Tamara und Susanna, meine "Lehrerinnen" - beide hochbegabte Miniaturmalerinnen in bester Tradition mit den Künstlern der mittelalterlichen Codices, derer sie sich mit und bei ihrer Restauriertätigkeit annehmen; Tamara ist außerdem ausgebildete Lehrerin. Da sitzt Arus (ihre Mutter arbeitet nebenan bei den Buchbinderinnen), augenblicklich mit der Restaurierung einer zwar nicht prachtvollen, aber dafür umso umfangreicheren Handschrift beschäftigt, die durch Tintenfraß beschädigt ist; neben ihr Mardshik, ein kleines, ledergebundenes Büchlein mit vielen schönen Vogelbuchstaben und Bildern sowie roten Randverzierungen vor sich, seit fast einem Jahr schafft sie daran. Sie reparieren auseinandergenommene Codices oder Bücher als Ganzes, säubern, ergänzen Fehlstellen im Papier, heften neu, stechen ein spezielles "armenisches Kapital", erneuern oder flicken die lederbezogenen Deckel eines mittelalterlichen Einbands.

Gayane, die Leiterin, eine promovierte Chemikerin, ist gerade nicht da: mit Petrischale und Spatel ist sie auf ihrem täglichen Gang durchs Archiv, wo unglaubliche Bücherschätze lagern: unter den ca. 20.000 Exemplaren befinden sich ca. 10.000 Folianten und 2.500 Faksimiles, die ältesten aus dem 5. Jahrhundert. Dort durfte ich vor 3 Jahren das Evangeliar von Etschmiadsin in Händen halten, eine Handschrift, die in ihren Teilen mehr als 1000 Jahre alt ist, mit herrlichen elfenbeingeschnitzten Einbanddeckeln. Ein "heiliges" Buch, das dem armenischen Volke so viel wert ist, daß es nicht, ja niemals außer Landes gebracht werden darf. Es stammt aus dem Kloster Noravank und gehört dem Patriarchat in Etschmiadsin, das das Werk dem Matenadaran zur Aufbewahrung anvertraut hat. Zur Faksimilierung dieser Handschrift mußte im Jahr 1998 die gesamte technische Equipe aus Wien nach Armenien reisen, um dort die Arbeit zu machen, die sonst in westlichen Werkstätten vorgenommen wird. Gayane zieht, wahllos, 5 Proben, prüft den Zustand der Bücher auf mechanische Schäden oder bakteriologischen Befall, auf Mäuse- oder Wurmfraß, Wasser- oder Brandschaden, Fehlstellen, Deckelzustand etc. Nach einigen Tagen zeigen die angesetzten Bakterienkulturen vielleicht: "Dieses Buch ist krank". In ihrem sehr guten, aber noch nicht perfekten Deutsch (sie lernt bei Melanja im Deutschen Lehr- und Kulturinstitut) fährt sie fort: "Wir müssen es heilen."

Bücher wie Menschen, krank oder gesund, vom Schicksal gebeutelt, mit Liebe und Sorgfalt begleitet, in Kriegen gegen Gefangene eingetauscht. Man weiß von Büchern, die in einzelne Bestandteile zerlegt wurden, nur um der größeren Chance der Rettung und des Überlebens willen...

Schwer nur können wir in dieses Geheimnis eindringen: unsereins mag seine Bücher lieben und oftmals sind sie wie Freunde, zu denen wir ein persönliches Verhältnis entwickeln. Aber: Seit das armenische Volk 301 n.Chr. als erstes das Christentum als Staatsreligion annahm, seit 100 Jahre später Mesrop Maschtotz, der Mönch durch die Erfindung und Entwicklung des armenischen Alphabets die Verbreitung des Christentums als einigendes Element für dieses weit verstreut lebende Volk ermöglichte, wuchs die Bedeutung von Schrift und Buch als Grundlage der Verehrung, Andacht, und Religiosität im gesamten Volk, nicht nur im Klerus.

Habent sua fata libelli. Ja. Dieses kleine, ca. 8 x 5 cm große Etwas, das da vor mir liegt, im zerfledderten schwarzen, löcherigen Lederumschlag, ohne Rücken, lose Seiten vorn und hinten; offensichtlich fehlen die ersten Seiten vollständig. Eine erste, originale Bindung scheint nicht haltbar genug gewesen zu sein; so war in der Folge von ungeübter Hand mit groben Stichen und Bindfaden einfach durch das Papier hindurchgenäht worden. Den Text kann ich nicht lesen, armenisch. Ein Buch mit religiösem Inhalt, ein Andachts- oder Gebetbuch vielleicht, handgeschöpftes Papier (erst ab 1800 etwa gibt es industrielle Papierherstellung, aber dieses Büchlein stammt aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts), Eselsohren, von reichlichem Gebrauch (mit Spucke ?) die rechte untere Ecke ziemlich geschwärzt, andere Teile des Buches offensichtlich weniger benutzt ... Ehrfürchtig drehe ich dieses "gelebte" Buch um und um - da soll ich mit der Schere drangehen? Nur zu, sagt Tamara, keine Scheu, das muß sein. Also gut. Lage für Lage wird gelöst, der Bindfaden herausgetrennt. Ein rosa Kosmetikpinsel (!) tut gute Dienste beim Entstauben. Ach was, entstauben ist viel zu milde gesagt. Im Bundsteg (also dort, wo in der Mitte die Seiten geheftet waren) wälzen sich millimeterdicke Staubwürste, ab und zu von Strohteilchen durchsetzt. Wer hat wann und wo (beim Viehhüten vielleicht? - auf dem unsäglichen Schmerzensmarsch der Vertreibung? - in der Umzingelung von Musah Dagh?) in diesem Büchlein Trost gesucht? Möge er ihn gefunden haben!!

Habent fata sua ... Die Schicksale solcher, wenn auch kleinen, Bücherpersönlichkeiten kann man nur ahnen. Und erst die großen prachtvollen Codices, an denen Tamara oder die anderen zuweilen 2 Jahre oder länger arbeiten, um sie in den Zustand zu versetzen, daß man sie in dem Lesesaal des Matenadaran wieder benutzen kann - könnten sie erzählen!

Übrigens: in der Restaurierwerkstatt fehlt es buchstäblich an allem: Pinsel, Scheren, Arbeitsmatten, Lösch- und Wachspapier zum Trocknen der gewaschenen Blätter, Restaurierpapier, Pappe, Leder .... Jedes Jahr bringe ich etwas Material und Werkzeug mit. Vielleicht mag jemand von Ihnen direkt oder finanziell ein wenig helfen?

                      Margret Jaschke